Samstag, 4. Januar 2014

Geschichten...

Wir probieren Geschichten an, wie man Kleider anprobiert, heisst es bei MAX FRISCH.
DAs Leben ist ein Wirrwarr, schlimmer als ein Wollknäuel. Stellen Sie sich einen Marsmenschen vor, der mit einem Notizbuch neben Ihnen hergeht und alles notiert, was Sie tun und denken und träumen. Das Protokoll Ihres Lebens bestünde aus Beobachtungen wie "Kaffee getrunken, zwei Würfelzucker", "auf einen Reissnagel getreten und die Welt verflucht", "geträumt: Nachbarin geküsst", "Urlaub gebucht, Malediven, schweineteuer", "Haar im Ohr, gleich weggezupft" und so weiter. Dieses Chaos von Einzelheiten zwirnen wir zu einer Geschichte. Wir wollen, dass unser Leben einen Strang bildet, dem wir folgen können. Viele nennen diese Leitschnur "Sinn". Verläuft unsere Geschichte über Jahre hinweg gerade, nennen wir sie "Identität".
Dasselbe stellen wir mit den Details der Weltgeschichte an. Wir zwängen sie in eine widerspruchslose Geschichte. Das Resultat? Plätzlich "verstehen" wir zum Beispiel, warum der Versailler Vertrag zum Zweiten Weltkrieg oder warum die lockere Geldpolitik von ALAN GREENSPAN zum Zusammenbruch von LEHMAN BROTHERS geführt hat. Wir verstehen, warum der Eiserne Vorhang fallen musste oder Harry Potter zum Bestseller wurde. Was wir "Verstehen" nennen, hat damals natürlich niemand verstanden. Konnte gar niemand verstehen. Wir konstruieren den "Sinnnachträglichhinein. Geschichten sind also eine fragwürdige Sache - aber scheinbar können wir nicht ohne. (...)
Geschichten verdrehen und vereinfachen die Wirklichkeit. Sie verdrängen alles, was nicht so recht hineinpassen will.
aus ROLF DOBELLI, Die Kunst des klaren Denkens. HANSER.

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