Samstag, 4. Januar 2014

Geschichten...

Wir probieren Geschichten an, wie man Kleider anprobiert, heisst es bei MAX FRISCH.
DAs Leben ist ein Wirrwarr, schlimmer als ein Wollknäuel. Stellen Sie sich einen Marsmenschen vor, der mit einem Notizbuch neben Ihnen hergeht und alles notiert, was Sie tun und denken und träumen. Das Protokoll Ihres Lebens bestünde aus Beobachtungen wie "Kaffee getrunken, zwei Würfelzucker", "auf einen Reissnagel getreten und die Welt verflucht", "geträumt: Nachbarin geküsst", "Urlaub gebucht, Malediven, schweineteuer", "Haar im Ohr, gleich weggezupft" und so weiter. Dieses Chaos von Einzelheiten zwirnen wir zu einer Geschichte. Wir wollen, dass unser Leben einen Strang bildet, dem wir folgen können. Viele nennen diese Leitschnur "Sinn". Verläuft unsere Geschichte über Jahre hinweg gerade, nennen wir sie "Identität".
Dasselbe stellen wir mit den Details der Weltgeschichte an. Wir zwängen sie in eine widerspruchslose Geschichte. Das Resultat? Plätzlich "verstehen" wir zum Beispiel, warum der Versailler Vertrag zum Zweiten Weltkrieg oder warum die lockere Geldpolitik von ALAN GREENSPAN zum Zusammenbruch von LEHMAN BROTHERS geführt hat. Wir verstehen, warum der Eiserne Vorhang fallen musste oder Harry Potter zum Bestseller wurde. Was wir "Verstehen" nennen, hat damals natürlich niemand verstanden. Konnte gar niemand verstehen. Wir konstruieren den "Sinnnachträglichhinein. Geschichten sind also eine fragwürdige Sache - aber scheinbar können wir nicht ohne. (...)
Geschichten verdrehen und vereinfachen die Wirklichkeit. Sie verdrängen alles, was nicht so recht hineinpassen will.
aus ROLF DOBELLI, Die Kunst des klaren Denkens. HANSER.

Er stirbt

Also, Mahoni.
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Gehen Sie noch nicht.
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Mein Liebling.
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Ich bin noch nicht bereit. Ich bin noch nicht bereit für das Ende.
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Tut mir leid.
Als König Lear im fünften Akt stirbt, weisst du, was Shakespeare da geschrieben hat? Er hat geschrieben: Er stirbt.
Das ist alles, nichts weiter. Keine Fanfare, keine Metapher, keine brillanten letzten Worte. Das dramatischste Werk der Literatur gipfelt in dem Satz: Er stirbt!
Da muss erst Shakespeare, das Genie, kommen und sagen: Er stirbt.
Und doch werde ich, wenn immer ich diese zwei Worte lese, von einer tiefen Verstimmung geradezu überrumpelt. Und ich weiss, es ist nur natürlich traurig zu sein aber nicht wegen der Worte "Er stirbt" sondern wegen des Lebens, das diesen zwei Worten vorausging.
Ich habe meine fünf Akte gelebt, Mahony. Und ich verlange nicht, dass du über meinen Abgang glücklich bist.
Ich bitte dich nur diese Seite umzublättern. Und weiterzulesen. Dann kann die nächste Geschichte beginnen.
Und wenn mal jemand fragt, was aus mir geworden ist, berichtest du von meinem Leben mit all seinen Wundern und endest mit einem schlichten und bescheidenen "Er starb.".
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Ich hab Sie lieb.
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Ich hab dich auch lieb.
Dein Leben ist eine Herausforderung. Lass' dich darauf ein.
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(Mr. Magoriums Wunderladen)